Flying Blind In Shenzhen
Donnerstag, 29. Oktober 2009
Connie Willis: DOOMSDAY BOOK


Bells, Cows and Time

(5/5 Sterne)

Im Jahre 2054 ist der interessanteste Beruf den man haben kann der des Historikers, denn eine fortgeschrittene Technik erlaubt Feldstudien vor Ort. Will sagen es ist möglich sich in die zu studierende Zeit versetzen zu lassen.

Kivrin Engle, eine Studentin des Brasenose Colleges der Oxford Universität, ist die erste Person, die in das, bis dato gesperrte, Mittelalter reisen soll, um das Leben im Jahre 1320 direkt zu erforschen.
Trotz schwerer Einwände gegen diese Reise hilft ihr ein Geschichtsprofessor des Balliol Colleges sich ordentlich vorzubereiten. Der Mann heißt James Dunworthy und obwohl er selbst kein Fachmann für das Mittelalter ist, weiß er genug darüber, um sich ehrliche Sorgen um Kivrin zu machen. Ferner setzt er durch, dass einer seiner fähigsten Techniker, Badri Chaudhuri, den Zeitsprung durchführt.

Am 22.12.2054 wird Kivrin gut geschult, mit allen technischen Finessen ausgestattet und gegen alles mögliche und unmögliche geimpft, in der Zeit versetzt. Trotzdem ist sie in keinster Weise auf das vorbereitet, was sie wirklich erwartet.

Ein Aufzeichnungsgerät mit großer Kapazität in der Form eines kleinen menschlichen Knochens ist in ihrer Hand implantiert. Um es zu aktivieren, muss sie beide Hände so zusammenhalten, dass es so aussieht, als ob sie beten würde. Dies wird hauptsächlich aus Gründen der Tarnung so gemacht, denn unter keinen Umständen darf Kivrin als Zeitreisende entlarvt werden.
Das durch die Aufzeichnung enstehende Tagebuch nennt Kivrin, nicht ohne Humor, ihr "Domesday Book". Heute würde dies in Englisch "Doomsday Book" heißen und auf Deutsch "Das Buch des Jüngsten Gerichts".
Kivrin leitet diesen Titel vom 1086 enstandenen Reichsgrundbuch des ersten normannischen Königs von England, Wilhelm der Eroberer, ab. Dessen "Domesday Book" legte vor allem die Besitzstände in seinem Reich fest und zwar, wenn es nach ihm gegangen wäre, gültig bis zum Jüngsten Tag.

In der Tat verfolgt der Roman ab hier zwei parallel laufende Handlungen.
Im Oxford des Jahres 2054 (gregorianische Zeitrechnung) bricht eine Virusepidemie aus, die für die Erkrankten tödlich verlaufen kann. Wir erleben, wie Professor Dunworthy trotz der strengen Quarantäne erstens ein Gruppe amerikanischer Handglockenspielerinnen behilflich sein muss und zweiten Kivrin aus ihrer misslichen Lage zu retten versucht, denn der Zeitsprung ist offensichtlich nicht so verlaufen, wie er sollte.
Im Oxford des Jahres 1348 (Julianischer Kalender) lernen wir einige Leute kennen und lieben. Wir erleben, wie Kivrin mit allen - kaum vorhandenen - Mitteln versucht diese vor der anrückenen Pestepidemie zu bewahren und parallel dazu den Ort wiederzufinden, von dem aus sie in ihre eigene Zeit zurückkehren kann.

Connie Willis ist eine sprachgewandte Aurorin, die im Bereich der Phantastischen Literatur ihre ganze eigene Nische gefunden hat.
Hardcore-Science-Fictions Fans werden wohl eher nichts mit ihr anfangen können, denn nicht technische Details oder gar Raumschlachten stehen bei ihr im Vordergrund, sondern eher eine starke Charakterisierung der Protagonisten und die Beschreibung von deren sozialen Umfeld.
Dass Willis allerdings zur Not auch mit außerirdischen Invasoren umzugehen versteht, kann man ihrer recht humorvoll gehaltenen Kurzgeschichte THE SOUL SELECTS HER OWN SOCIETY: INVASION AND REPULSION: A CHRONOLOGICAL REINTERPRETATION OF TWO OF EMILY DICKINSON'S POEMS: A WELLSIAN PERSPECTIVE entnehmen - aber das nur so nebenbei:-)
Der Roman DOOMSDAY BOOK hält aus gutem Grund sich mit Humor dagegen zurück, dazu ist die ständige Anwesenheit des Todes auch nicht wirklich geeignet.

Willis soll etwa fünf Jahre an dem Werk gearbeitet haben und jede Seite, auf der das Leben im mittelalterlichen England beschrieben wird, merkt man die Gründlichkeit auch an.
Hier spielt Willis ihr erzählerischen Fähigkeiten voll aus, wenn sie die Beschreibung von ganz alltäglichem in eine mitreissende Geschichte verwandelt.
Am intensivsten sind vor allem die Momente, in denen Kivrin hilflos mitansehen muss, wie einer nach dem anderen von der "Blauen Krankheit" geholt wird. Den Begriff "Schwarzer Tod" wurde erst ab dem 16. Jahrhundert verwendet. Gerade zu rührend Kivrins Glauben an die Statistik, nach der nach jeden neuen Opfer die Überlebenschance der anderen steigen müßte. (Hallo liebe Mathematiker: Mir ist schon klar, dass dies natürlich kompletter Unsinn ist)
Ein weiterer tragischer Nebenschauplatz: Kivrin wurde von Professor Dunworthy dazu angehalten, Kühe melken zu lernen, da dies zur mittelalterlichen Allgemeinbildung in ländlichen Gebieten gehörte. Tatsächlich taucht dann im Laufe der Handlung immer wieder eine Kuh auf, die unbedingt gemolken werden müßte, damit der Euter nicht irgendwann platzt. Willis hat es geschafft, dass mir selbst das Schicksal dieses Rindes nahe ging.

Ebenfalls ist die Darstellung der Probleme, die Kivrin mit der Sprache hat, beeindruckend.
Obwohl alle Kurse ordentlich abgeschlossen, kann sie nur Latein, nicht aber die Mittelenglische Sprache verstehen. Ohne die Hilfe ihres selbstlernenden Übersetzers hätte sie sich wohl kaum mit Leuten aus dem gemeinen Volk verständigen können.

Aus meiner Sicht gibt es leider auch etwas zu kritisieren:

a) In jeder Geschichte in der es um Zeitreisen geht, spielt auch das Phänomen der Zeitparadoxa eine Rolle. Beliebtes Beispiel: Ein Mann reist in die Vergangenheit und tötet seinen Großvater bevor dieser dier Gelegenheit hatte des Mannes Vater zu zeugen. Ohne Vater kann also auch der Mann nicht geboren worden sein und kann somit kaum in der Zeit zurückgehen, um Opa abzumurksen. Welche Auswirkung hätte es nun auf die Historie, wenn jemand dafür sorgen würde, dass Adolf Hitler 1927 den Literaturnobelpreis für MEIN KAMPF erhält ?
Connie Willis löst das Problem der Zeitparadoxa scheinbar, in dem sie davon ausgeht, dass das Gefüge der Raumzeit sich selbst vor schwerwiegenden Eingriffen schützt, in dem es Reisen zu signifikaten Zeiten und Orten nicht zuläßt. Wenn also jemand versucht am Abend des Karfreitag 1865 nach Washington DC zu reisen, um John Booth seine Eintrittskarte ins Ford-Theater zu stehlen, würde die Raumzeit diesen Zeitsprung nur mit einer bestimmten Abweichung zulassen, so dass man den Diebstahl nicht erfolgreich durchführen könnte.
Es leuchtet zunächst ein, dass außerordentliche Ereignisse, wie das Attentat auf Abraham Lincoln nicht durch einen Zeitreisenden verhindert werden kann, was sollte aber jemand daran hindern Adolf Hitler in der Wiege zu meucheln ? Geschehene negative Ereignisse können nicht verhindert werden, weil die Raumzeit davon weiß, dass sie geschehen sind. Wieso sollte man aber nicht ein nicht eingetretenes Ereignis, wie die Ermordung von Bela Lugosi, nachholen können. Kann die Raumzeit Gedanken lesen ?
Auch wenn man die Extreme verläßt: Würde nicht die Begegnung von Leuten aus der Vergangenheit mit einem Zeitreisenden deren Entscheidung so beeinflussen, dass sich die Zukunft in jedem Fall ändert ?
Mir scheint, dass Connie Willis hier nicht konsequent zu Ende gedacht hat.
Allerdings muss ich auch gestehen, dass das von mir genannte Problem in dieser speziellen Geschichte gar nicht zum tragen kommen kann. (Ich werde es hier nicht verraten, um nicht zu spoilern).

b) Die beiden beschriebenen Zeitlinien haben nicht die gleiche Qualität.
Während Kivrins Abenteuer im Mittelalter sehr spannend ist, scheinen die Geschehnisse in 2054 zu lange auf der Stelle zu treten. Ausbruch der Epidemie und Quarantäne ok, aber dann scheint es fast nur noch Professor Dunworthy zu geben, der alles alleine erledigen soll, inklusive das Finden die Quelle des Virus! Abgesehen von der Bewachung der Quarantänegrenze um Oxford treten seltsamerweise auch keine staatlichen Autoritäten in Erscheinung. Klingt für mich nicht besonders plausibel.
Obwohl also der Mann soviel zu tun hat, zieht sich der Handlungsstrang für meinen Geschmack viel zu ereignisarm hin.
Es wäre sicher besser gewesen, den Erzählstrang von 2054 etwas zu straffen und dafür mehr Raum für Kivrins Abenteuer in 1348 einzuräumen. Ich vermute, das hätte Connie Willis selbst sicher auch mehr Freude bereitet.
Wenigstens kann Professor Dunworthy die von den Handglockenläuterinnen abgeschauten Bewegungsabläufe noch dafür einsetzen, dass eine noble Seele den Weg in den Himmel findet.

Trotz der o.g. Punkte ist der Roman ein tolles Stück Belletrisik, dem ich ehrlichen Herzens 4.5 Sterne gebe und ich freue mich schon auf das nächste Werk, welches ich von Connie Willis lesen werde.

Mein aufrichtiger Dank gilt Lady Woodstock of East Berlin, die für uns alle diese großartige Autorin wiederentdeckt hat.
In diesem Zusammenhang kann es auch kein Zufall sein, dass Eduard III von England seinen ältesten Sohn Edward of Woodstock genannt hat...wir sollten das überprüfen.
Badri, hol schon mal jemand die Zeitmaschine:-)

******

P.S.
Übrigens gibt es eine deutsche Fassung dieses Romans, die 1993 vom Heyne Verlag herausgebracht worden ist. Leider konnte man sich bis jetzt aber nicht zu einer Neuauflage durchringen.
Wäre doch mal ein Tipp für Kleinverlage sich die Rechte zu sichern. Ins Programm vom Festa Verlag oder Körbers Edition Phantasia würde der Text allemal passen.


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Letzte Aktualisierung: 2016.09.09, 09:20


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