Flying Blind In Shenzhen
Samstag, 10. Mai 2008
Dan Simmons: IN DER SCHWEBE


"Die Sioux lügen gelegentlich"
(4/5 Punkten)

1989 war ein veröffentlichungsreiches Jahr für Dan Simmons.

Zwischen einem Horrorroman KRAFT DES BÖSEN (engl. CARRION COMFORT) und seinem absoluten Durchbruch mit dem Science Fiction Roman HYPERION gelangte auch noch ein anderes ruhiges, fast melancholisches, Werk ans Licht der Öffentlichkeit: IN DER SCHWEBE (engl. PHASES OF GRAVITY).

Erzählt wird eine Geschichte in der der Protagonist, Richard Baedecker, offensichtlich den Höhepunkt seines Lebens schon hinter sich hat, nämlich einen Spaziergang auf dem Mond (Zeitlich muß das also "Apollo 18" gewesen sein, dies wird aber nicht explizit erwähnt).
Nun 16 Jahre nach diesem medialen Ereignis ist der Ruhm verblaßt. Baedecker wirkt mehr wie ein Blatt im Wind. Seine Frau hat sich längst scheiden lassen und sein Sohn, Scott, lebt in Poona im Ashram von Rajneesh Chandra Mohan Jain (obwohl dieser nie namentlich erwähnt wird), er gibt seinen hochdotierten Job auf, um einige Orte und Menschen aufzusuchen und um schließlich doch noch zu sich selbst zu finden.

Es ist bestimmt kein Zufall, dass der literarisch gelehrte Simmons ihm die Form eines postmodernen Romans verliehen hat.
Die drei Hauptkriterien sind jedenfalls vorhanden, als da wären: Die Geschichte wird nicht chronologisch und in Fragmenten erzählt, der Protagonist Baedecker entwickelt sich nicht wirklich im Laufe der Handlung und es wird dem Leser klar gemacht, dass es halt keine einzig wahre Sicht der Dinge geben kann.

Dan Simmons benutzt die Figur Baedecker im Prinzip nur dazu die Geschichten und Schicksale von anderen Personen zu erfahren. Neben seinem Sohn Scott sind das vor allem die anderen beiden Teilnehmer seiner Mondmission Tom Gavin und Dave Muldorff.
Er schickt Baedecker nach Poona und Kalkutta (wo als Referenz zu Simmons Erstlingswerk SONG OF KALI natürlich eine Wasserleiche aus dem Ganges gezogen wird), nach Colorado (wo Baedecker mit Tom Gavin und seiner Familie einen Berg in den Rocky Mountains besteigen und drachengleiterfliegen; dies dürfte eine Referenz an Simmons eigenen Wohnort Boulder, CO sein), nach Oregon (wo er letzmalig Muldorff trifft und schließlich, in einer spektakulären Hubschrauberaktion, seinen Sohn aus dem, inzwischen aus Indien umgesiedelten Ashram, befreit)und nach South Dakota (wo Baedecker versucht seine aktuelle Liebe Maggie Brown zu finden).

Baedecker wird auf seiner Reise oft mit einem von Simmons Lieblingthemen konfrontiert, der Religion. Dabei wird vor allem das religiöse Verhalten in den USA beleuchtet, in der nach einer jüngst veröffentlichten Statistik jeder 4. schon mindestens einmal seinen Glauben oder seine Konfession geändert hat.
Abgesehen von den eher exotischen Lehren des Osho, denen Scott Baedecker eine Zeit lang anhängt, ist Tom Gavin zum evangelikalen Prediger geworden, nachdem er mit seiner vorherigen Firma Schiffbruch erlitten hat und ihm dann wieder einfiel, dass Gott zu ihm gersprochen hat, als er sich in seiner Raumkapsel über der dunklen Seite des Mondes befand. Dabei ignoriert er völlig, dass sein Sohn Tommy Jr. unter den prüden moralischen Vorstellungen seiner Eltern sehr leidet, was letztendlich fast zum Suizid des Jungen führt.
Der Höhepunkt des Romans ist für mich das Treffen Baedeckers mit Robert Sweet Medicine auf dem Bear Butte. Sweet Medicine ist ein Cheyenne, der erläutert, dass der Bear Butt ein heiliger Berg für sein Volk ist. Allerdings wird der Berg auch von den Arapahoes, den Apachen, den Kiowas und den Sioux als ihr Heiligtum betrachtet und jeder dieser Völker hat eine immer noch phantastischere Legende, warum der Berg nun ausgerechnet ihr heiliger Ort ist und um die anderen eifersüchtig zu machen. Dabei erzählt Sweet Medicine dies nicht verbittert, sondern mit viel Humor und Sinn für Ironie. Als Baedecker ihm von Maggie Browns Sicht der Dinge erzählt, nämlich dass diese zwar an die Vielfalt und das Geheimnis des Universums glaubt, nicht aber an das Übernatürliche, antwortet der Indianer, dass er Maggie Brown für weise hält, denn wieviel vom Universum kennen wir überhaupt, um solche Dinge überhaupt richtig würdigen und beurteilen zu können? Eindeutig zu wenig und mit großer Wahrscheinlichkeit wird es auch niemals genug sein, denn auch ein zehntausendstel eines unendlichen Systems ist immer noch ein unendliches System.
Entscheident ist, dass Robert Sweet Medicine uns und Richard Baedecker klar macht, dass dies aber auch kein Grund sein sollte traurig zu sein.

Ich möchte noch erwähnen, dass Simmons uns auch noch etliche Details der wirklichen Apollo- und Space Shuttle-Programme der NASA mit auf den Weg gibt. Wieder hat er viele Details recherchiert und verarbeitet.

Auf den ersten Blick scheint der Roman nicht viel zu erzählen, aber dieser Schein trügt gewaltig. Dan Simmons stellt hier eindrucksvoll dar, dass für jeden Glück etwas völlig anderes bedeuten kann. Anhand etlicher Beispiele wird gezeigt, dass weder Ruhm noch Geld Glück ausmachen müssen, schon gar nicht die vielfältigen Erlösungsversprechen religöser Vorstellungen, aber auf der anderen Seite können sie es sein. Es gibt kein allgemeingültiges Rezept für Glück. Letztendlich bleibt es dem Individuum überlassen sein Weg zum persönlichen Glück zu finden. Dies ist sicher keine neuentwickelte Philosophie, aber der Stil in dem dies nähergebracht wird ist bewegend.

Ich finde diesen Roman wirklich beeindruckend.
Den einzigen Kritikpunkt den ich habe, bezieht sich auf die Übersetzung dieser Ausgabe. So sehr ich Joachim Körber auch schätze, ich denke er hatte keinen guten Tag gehabt, als er sich dieses Werk vornahm. Es ist wohl ein Kardinalsfehler Texte "wortgenau" übersetzen zu wollen, aber gerade bei einem sprachgewandten Schriftsteller wie Dan Simmons ist das eine Katastrophe. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der junge Richard Baedeker hängt über einem Stausee an einer in Trümmer liegenden Brücke. Sein Vater kommt ihm mit einem Boot zur Hilfe, greift ihn von unten und sagt: "Laß gehen, Richard. Spring. Alles in Ordnung. Ich habe Dich. Laß gehen Richard."
Wenn im Englischen hier ein "Let go" sehr angebracht ist, würde es ins Deutsche übertragen wohl eher "Laß los" heißen, aber sicher würde niemand sagen "Laß gehen".
Dies schmälerte mein Lesevergnügen geringfügig, weshalb ich für diese Ausgabe des Romans nur 4 Sterne vergeben mag, ansonsten ist Dan Simmons Arbeit allemal 5+ Sterne Wert.

Hier ist eine Chance für Leser in den Genuss von Dan Simmons kommen, auch wenn man sonst nichts mit Horror- oder Science Fiction-Literatur anfangen kann.


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